Botschaft an das überschwemmte Deutschland

Ich grüße Deutschland, das sich in diesen Tagen ebenfalls in drei Gruppen gespalten hat. Vielleicht vermittelt dieser Text der dritten Gruppe zumindest teilweise die symbolische Erfahrung unserer zweiten Gruppe – „derjenigen, die dort mit ihnen waren“.
Am 13. August 2002, als Südböhmen bereits unter Wasser stand und ein tausendjähriges Hochwasser, das den Pegel der böhmischen Flüsse um mehrere Meter erhob, langsam durch die Moldau nach Norden zur Hauptstadt und darüber hinaus floss, war ich bei meinem Mädchen in der Gemeinde Lužec nad Vltavou. Lužec liegt im Norden Böhmens am Zusammenfluss von Elbe und Moldau unweit der Stadt Mělník auf einer Insel, die auf der einen Seite von der Moldau und auf der anderen vom Moldau-Schifffahrtskanal Vraňany – Hořín umflossen wird. Zu jener Zeit war es bereits nach der Flut in Süd- und Westböhmen und man sprach darüber, was das Hochwasser in Prag verursachte. Meine Großmutter und ihre ganze Familie aus Prag-Velká Chuchle wurden damals gerade aus ihrem etwas verfluchten Haus am linken Moldauufer evakuiert, wo während der erbitterten Kämpfe im Mai 1945 zwei Armeen nacheinander ihren Stab aufgeschlagen hatten, wobei die erste darauf beim Rückzug vor Wut mit einem Panzer geschossen hatte. Dies zeigte sich nach sechs Jahrzehnten als verhängnisvoll, als das bis dahin mit Baukitt einigermaßen zusammengeklebte Haus von der Überschwemmung buchstäblich zertrümmert wurde. Zum Symbol des Hochwassers wurde nicht nur für Velká Chuchle, sondern – nachdem die Medien eingebunden wurden – auch für die ganze Nation eine Mülltonne, die beim Hochwasser den Zaun der Nachbarn meiner Oma durchgebrochen hatte. Als sich die Nachbarn diese Mülltonne näher anschauten, waren sie erstaunt. Es stand darauf geschrieben: „KOMMUNALE DIENSTE PILSEN“. Die Mülltonne schwamm durch zwei Flüsse von Pilsen nach Prag, 150 Kilometer weit. (Sie übertraf somit die berühmte Robbe Gaston aus dem Prager Tiergarten, die in den folgenden Tagen von Prag flussabwärts bis in die Lutherstadt Wittenberg driftete, wo sie an Stress, Müdigkeit und Erschöpfung starb.)
Gehen wir aber nach Lužec na Vltavou zurück, wo ich mich zu jener Zeit befand. Das kleine Dorf mitten auf einer Insel am Zusammenfluss von Elbe und Moldau wusste nicht, was alles zu erwarten ist. Man versuchte also, sich auf alles vorzubereiten. Häuser in der Aue am Fluss und Kanal wurden bereits evakuiert, in den weiter vom Fluss gelegenen Gebäuden wurde Grundwasser aus den überfluteten Kellern abgepumpt, Freiwillige aus dem Dorf errichteten Barrieren aus Sandsäcken am Fluss, Geschäfte wurden längst von haltbaren Lebensmitteln befreit, Tagesferien an der örtlichen Schule wurden abgesagt, damit die Eltern mit ihren Kindern sein können, die Bürgermeisterin saß am Telefon und wartete auf Anweisungen. Um zwei Uhr nachmittags war im Lokalradio ein Evakuierungsbefehl zu hören: „Diejenigen, die irgendwohin gehen können, sollen sich innerhalb einer Stunde dorthin begeben, und diejenigen, die niemanden haben, mögen sich umgehend beim Gemeindeamt melden, wo ein Bus auf sie wartet, der sie zum Ort einer Ersatzunterkunft bringt.“ Die Meldung wiederholte sich immer wieder und es wurden Namen derjenigen ausgerufen, die sich noch nicht gemeldet hatten.
Die Familie meines Mädchens, bei der ich zu Besuch war, war bereits vorbereitet, nur ihr Neufundländer, der es zeitlebens gewöhnt war, sich frei im Dorf zu bewegen und nie ein Halsband an hatte, war etwas verlegen. Kaum fanden wir uns bei Verwandten außerhalb der Insel, im nahe gelegenen Dorf Býkev, das zwei Kilometer von der Moldau entfernt lag (ich erinnere mich, wie herzlich wir dort vom Cousin meines Mädchens empfangen wurden, der der griechischen Minderheit anhörte, die während des Bürgerkrieges an der Wende von den vierziger zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die Tschechoslowakei gekommen war), erklang eine Aufforderung zur Evakuierung auch aus den Lautsprechern in diesem Dorf. Die Familie trennte sich dann und ich und meine Freundin endeten in Roudnice, einer Stadt, die zwar an der Elbe liegt, ihre Landschaft aber ´bergauf´ geprägt ist. Aus diesem Grund trennte das Hochwasser die Stadt innerhalb nur eines Tages in zwei ungleiche Hälften: während die untere Hälfte vom großen Wasser buchstäblich weggespült wurde, wusste die obere Hälfte (zu der auch meine Mutter gehörte) von nichts und lebte weiter ihr schläfriges Leben.
Als in ein paar Dutzend Stunden die Wasserkulmination vorbei war, ging ich halb illegal „aus den höheren Evakuierungslagen der Stadt“ hinab. Ich sah ein Bild der Apokalypse: Der vom Hochwasser betroffene Teil der Stadt war mit Schlamm bedeckt und der sechs Meter große, am ehemaligen linken Elbufer wachsende Gedenkbaum war auf der ganzen Oberfläche mit dünner Haut aus getränktem Papier und Plastik bedeckt – der ganze Baum wurde überflutet! Dies gab mir den Anstoß, mich bei der im hiesigen längst unbewohnten gotischen Augustinerkloster ansässigen Ortspfarrei anzumelden. Zu einer Zeit, als die Stadt- und Kreisvertreter noch eifrig darüber diskutierten, wie man sich mit der Katastrophe von einem Ausmaß auseinandersetzen soll, das keiner der Diskutanten in Erinnerung hatte, organisierte der dortige katholische Pfarrer bereits in eigener Linie einen Rettungstrupp bestehend aus einem örtlichen Freiwilligen (meiner Kleinigkeit) und vier „Distanzfreiwilligen“, die vom anderen Ende der Republik kamen: aus Český Těšín. Ein weiteres Mitglied des improvisierten Teams wurde einen Tag später mein Freund Jirka, ein Medizinstudent, der meinem Anruf folgte und aus dem damals schon medizinisch versorgten überfluteten Südböhmen per Autostopp zu mir in den böhmischen Norden wechselte.
Gleich am nächsten Tag kam ich mit dem Trupp auf die Flussinsel zurück, die ich zwei Tage zuvor verlassen musste. Gegenüber dem Dorf Zálezlice, das von den Medien unter Dutzenden und Hunderten gleich betroffenen Gemeinden – Gott weiß warum – als „Gesicht des Hochwassers“ = ein exemplarisches Bild der Katastrophe gewählt wurde (und dank dieser Tatsache aus den beginnenden Sammlungen solide versorgt wurde), lag auf der anderen Flussseite die verlassene Gemeinde Vrbno, um die sich im Grunde niemand kümmerte. Vrbno war im Gegensatz zu Roudnice flach wie ein Pfannkuchen und seine Häuser (alle ungefähr zwei hundert Jahre alt, gebaut aus ungebrannten Ziegeln, die von den dortigen Einwohnern ´buchty´ (Buchteln) genannt wurden) ´nahm´ das tausendjährige Wasser ungefähr auf dem Niveau der Schnittstelle zwischen der Mauer und dem Strohdach. Dies war auch bei den Häusern, die teilweise stehen blieben, mit bloßem Auge zu erkennen – denn bei Häusern, aus denen nicht nur Trümmer übrig blieben, war die Markierung des Höchstwasserstandes etwa wie auf einem Viertelbogen sichtbar, dessen unteren Teil man für eine Weile ins Wasser getaucht hatte.
Obwohl die Einwohner der Flutgebiete im Gegensatz zu Opfern der Starkregen dieser Tage in Deutschland und Tschechien ein paar Stunden mehr Zeit hatten, um sich auf den Schlag der Natur vorbereiten zu können, erinnerte die Atmosphäre in der Gemeinde an etwas zwischen Krieg und dem ersten Tag nach Kriegsende. Bewohner von Häusern, die sich im Eigentum ihrer Familien meist seit ihrer Errichtung befanden, d.h. in der achten Generation, lehnten es häufig ab, evakuiert zu werden. In der Sonnenhitze, die unmittelbar nach den regnerischen Tagen eintrat, boten sie sich chaotisch den wenigen Freiwilligen zu Hilfe, die auf allen möglichen Wegen aufs Geratewohl herkamen, einschließlich Taxis, die sie (illegal; auf noch nicht von einem Statiker geprüften Straßen) gratis herbrachten!
Die Überschwemmungen im Dorf forderten mehrere Vermisste. Die meisten Einheimischen, die überlebten, waren betrunken, da private Autos und Taxis auch private materielle Schenkungen brachten, unter denen nie Flaschen mit etwas fehlten, womit man das erlittene Trauma kompensieren konnte. Die gängige Regel unseres Rettungstrupps besagte (außer, dass wir selbst nicht trinken dürfen), dass die Einheimischen aus Rücksicht auf ihre Psyche nie in ihre eigenen Häuser gebracht werden dürfen. Unsere Arbeit war nämlich die folgende: den Boden von manchmal bis zu einem halben Meter Schlamm befreien, dann sämtliche Möbel zertrümmern (durchtränkt mit Schadstoffen aus dem Chemiewerk Spolana Neratovice, das die Elbe auch mit Giftstoffen aus der zerstörten Fabrik etwa zehn Kilometer stromaufwärts ´weggespült´ hatte – aus diesem Grund hatten wir eine Gummischutzkleidung an) und diese Möbel mit allem, was sie enthalten hatte (außer Porzellan, Kunststoff und was nicht mit Wasser getränkt war – in der Regel gab es jedoch keine Zeit, etwas zu sortieren), in die bereitgestellten Container wegzuwerfen. Ihre Anzahl war jedoch hoffnungslos unzureichend. Aus diesem Grund waren sie so überfüllt, das ein Teil der Früchte der Arbeit und Geschichte vieler Generationen bei der Abfuhr regelmäßig in den Schlamm abfiel. Das alles verstieß zudem (genauso wie das Eintreffen von Autos im Überschwemmungsgebiet) gegen die Arbeitssicherheitsvorschriften, da die geräumten Gebäude oft noch nicht von einem Statiker besichtigt wurden – der jedoch mehrere Tage nicht erschien, da die Zahl der betroffenen Gemeinden die Zahl der Statiker überstieg.
Von den Häusern und deren Überresten, die wir räumten, erinnere ich mich an einen neu erbauten Bauernhof eines etwa sechzigjährigen Ehepaares, das zudem für einen behinderten Enkel mit Zerebralparese sorgte. Frau Besitzerin führte uns durch die Ruine und zeigte uns, wohin das Wasser reichte. In einem riesigen Esszimmer, von dessen Decke die Plastikverkleidung herabfiel und Glaswollstreifen herunterhängten, blieb ich von allen Mitstreitern am längsten. Als ich herauskam und die Tür hinter mir schloss, hörte ich einen gewaltigen Schlag – die durch massive Holzbalken gestützte Decke des Esszimmers stürzte einschließlich des Daches ein…
In diesem Haus erlaubten wir ausnahmsweise, dass uns die Hausherrin bei der Schlammräumung hilft. Irgendwann konnte sie nicht mehr, und sagte zu uns: „Kinder, ich kann nicht mehr, würde es euch stören, wenn ich mich für eine Weile hinsetze?“ Worauf ich ihr – voll von der Arbeit eingenommen – antwortete: „Arbeiten Sie nur nicht, setzen Sie sich und erzählen Sie uns was Lustiges…“ Mein liebster Kumpel im Trupp, Dušan, ‘in Zivil‘ Saxofonlehrer an einer Kunstsschule in Český Těšín, gab dann diese Geschichte (natürlich mit Verständnis und Liebe) zum Besten als Beweis meiner geringen Empathie in Arbeitseifer…
Es dauerte genau einen Tag, bis es auch ihn erreichte. Die tägliche Quote von mehreren Dutzend leer geräumten Häusern, die vom Hochwasser komplett geplündert und vom Schlamm eingeebnet wurden, begann seine psychische Verfassung zu beeinflussen, und er murrte ständig: „Scheiße, immer wieder diese Scheiße wegzuräumen!“ – worauf er in einem zu räumenden Raum den Kühlschrank öffnete, aus dem sich echte unsymbolische Scheiße mit stinkigem Wasser über ihn ergoss. (Während des Hochwassers drang wahrscheinlich der Inhalt der Klärgrube ins Haus ein). Dušan machte nur zwei Schritte zum Fenster, erbrach sich und räumte diszipliniert weiter. Diese Geschichte über ihn gab dann wieder ich (mit Verständnis und Liebe) zum Besten…
Die Erfahrung des Rettungstrupps während des Hochwassers 2002 in Vrbno hinterließ in meinem Gedächtnis auch eine Reihe weiterer Erinnerungen: An den einzig verbliebenen, sich tottrinkenden Bewohner der örtlichen Tagesstätte für notorische Alkoholiker, der zusammen mit einem dortigen Assistenten freiwillig blieb, um zu helfen, und dessen Heilung zusammen mit der kollektiven Zuflucht genauso Bedürftiger vom Wasser genommen wurde. An einen Hausbesitzer, der trotz des Schildes vom Statiker (der sich schließlich im Dorf einfand) „EINTRITT INS HAUS VERBOTEN“ mit einer Motorsäge zumindest das ganz neue, nicht überschwemmte Balkenwerk seines Hauses aus gutem Holz absägte, bis sich die Balken auf einmal lösten und ihm vor unseren Augen ein Bein mit einem offenen Bruch entzweibrachen. (Damals erlebte ich zum ersten Mal die Geistesgegenwart meines Freundes, des Medizinstudenten Jirka, der – während der Hausbesitzer vom Dach heruntergetragen wurde – im Mist um das Haus herum zwei Holzstöcke fand, mit denen er – und mit einem Verband aus seinem Erste-Hilfe-Kasten – das Bein des Verletzten fixierte.) Auch blieb mir aber eine dortige Familie aus der Zeit im Kopf, als das Dorf keinen einzigen (lebenswichtigen) Container für die Müllabfuhr hatte, dafür aber mit unnötig großen Mengen an gepackten Wasserflaschen und Toilettenpapier völlig beladen war. Die Mitglieder dieser Familie beschlossen, ihre Schäden zumindest teilweise dadurch zu heilen, dass sie die bereitgestellten Sachen blitzschnell ´privatisierten´ und in der Umgebung verkauften...
Ich erlebte damals aber auch Schönes: Mein Kollege aus dem Rettungstrupp, der Katholik und Vegetarier Dušan, brachte mir, einem Atheisten, das Beten bei, und legte so den Grundstein für meine derzeitige religiöse Praxis, aber auch für meinen nachhaltigen Vegetarismus (der wirklich hart zu erlernen war während des kulinarischen Festes, mit dem zwei in die hiesige Pfarre aus einem der Klöster im Überschwemmungsgebiet evakuierten Nonnen unsere Bemühungen unterstützten). Ein weiterer Kollege, Marek, welcher der polnischen Minderheit im Nordosten unseres Landes entstammte, brachte mir wiederum die grundlegenden Gesprächswendungen auf Polnisch bei.
Schon damals fiel mir ein, dass die Opfer der Naturkatastrophe wohl keine schönen Erlebnisse aus jener Zeit hatten. Nicht einmal wir, die ´Helfer und Beobachter´, kamen aus dieser Lage ganz ohne einen traumatischen Nachteil davon: Ich hielt es im Rettungstrupp eine Woche aus, dann verließen mich endgültig meine körperlichen und vor allem geistigen Kräfte, und ich fuhr nach Hause. Ich stoppte eines der Versorgungsautos und als es bei der Rückreise durch die Straßen des ehemaligen Nazi-Ghettos in Theresienstadt fuhr, stellte ich fest, dass mich seine schmalen Gassen, die mich als Schüler erschreckten (wir waren dort mit einem Schulausflug), in diesem Moment überhaupt nicht berühren. (Mein abgebrühterer
Freund Jirka hielt noch eine Woche durch – und ergänzte die Reihen des Malteser Hilfsdienstes, der dann für eine regelmäßige Gesundheitsversorgung in dem Gebiet sorgte.) Noch Monate nach meiner Rückkehr aus dem Überschwemmungsgebiet konnte ich dann eine zähe Gewohnheit nicht loswerden – in jedem Raum, in dem ich ankam (auch wenn sich dieser im dreizehnten Stock eines Hochhauses in einer Stadt befand, in der es keinen Fluss gab…), suchte ich unbewusst nach einer Hochwasserlinie – nach einer Stelle, zu der beim Hochwasser das Wasser anstieg.
Nach Jahren einigten wir uns mit meinen Kollegen aus dem Rettungstrupp, dass die Katastrophenlage die Bevölkerung in drei zeitlose Gruppen mit einem unterschiedlichen Bewusstseinsstand teilte:
1) diejenigen, die direkt betroffen wurden,
2) diejenigen, die mit ihnen dabei waren (wie wir, die Freiwilligen),
3) diejenigen, die die Katastrophe nur aus den Medien kannten.
Ich grüße Deutschland, das sich in diesen Tagen ebenfalls in diese drei Gruppen gespalten hat. Vielleicht vermittelt dieser Text der dritten Gruppe zumindest teilweise die symbolische Erfahrung unserer zweiten Gruppe – „derjenigen, die dort mit ihnen waren“.
Deutsche, bleibt standhaft!
Übersetzung aus dem Tschechischen: Pavel Mašarák.